Vertrauensmangel birgt Risiken für Deutschlands Wirtschaftsagenda
19 Mai 2025 11:53
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(CONNECT) Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz muss bei der Durchsetzung seiner wirtschaftspolitischen Pläne mit mangelndem Vertrauen des Bundestags und der Öffentlichkeit rechnen, so die Einschätzung von Coface. Der global agierende Kreditversicherer und Risikomanager betrachtet die Durchsetzungskraft der neuen Regierung im Kontext der Kanzlerwahl im Deutschen Bundestag vom 6. Mai, die erst im zweiten Wahlgang gelang. Der Vertrauensmangel im Parlament gilt für die Fachleute als eines von mehreren Risiken für den Neustart.
Aktuell führt der CDU-Politiker Friedrich Merz eine Koalition mit dem sozialdemokratischen Juniorpartner SPD, der nurmehr drittstärksten Kraft im Bundestag. Dabei vereinen die Regierungsparteien eine knappe Mehrheit der Abgeordneten. Nach dem Bruch der vorigen Koalition hatte die CDU die Wahlen mit 28,5 Prozent gewonnen; die geschwächte SPD erwies sich als einzig mögliche Koalitionspartnerin abseits der rechtsextremen Partei AfD.
Als Gründe für den Gegenwind, den die Regierung erfährt, nennt Coface neben dem CDU-Kurswechsel bei der Schuldenbremse die umstrittene Entscheidung der Partei, mit der AfD bei einer Abstimmung zur Migrationspolitik zu kooperieren. Zudem werden in allen Fraktionen Stimmen laut, die den direkten politischen Stil von Friedrich Merz kritisch sehen. Die Fachleute sehen Merz’ Wahl der Angst vor Neuwahlen geschuldet, bei denen die AfD aktuellen Umfragen zufolge als stärkste Kraft antreten würde.
Ein entscheidendes Risiko sei auch der geringe Rückhalt des Kanzlers in der Bevölkerung, heisst es. 73 Prozent geben laut einer Umfrage an, Merz habe die Wähler getäuscht; nur 44 Prozent finden ihn als Kanzler angemessen. Diese Werte könnten laut der Analyse die politische Unsicherheit weiter steigern und so Investitionen und Konsumentscheidungen verzögern. Das ist insbesondere deshalb problematisch, als die deutsche Wirtschaft bereits seit Jahren im Nullwachstum verharrt. Die Industrie befindet sich seit 2018 in einer Rezession; allein der öffentliche Sektor trägt seit Mitte 2023 zu einem Wirtschaftswachstum bei, so Coface. Die Auswirkungen der US-Zölle und ein Mangel an neuen Impulsen könnten zu weiterer Lethargie führen.
Die Regierung hat sich als Priorität gesetzt, die Wirtschaft mit einer ganzen Reihe an Massnahmen zu stärken. Dabei ist laut Coface aber keine tiefgreifende Reform geplant. Privathaushalte mit kleinem oder mittlerem Einkommen sollen ab 2027 von einer gesenkten Einkommenssteuer profitieren, die Wirtschaft von einer Verringerung der Unternehmenssteuern und der Stromsteuer auf EU-Minimum. Vorgesehen sind eine Energiepreissenkung für energieintensive Unternehmen, Unterstützung für die Automobilindustrie und Förderung der E-Mobilität. Durch flexiblere Arbeitszeiten will die Regierung die Produktivität und durch eine Mindestlohn-Erhöhung die Kaufkraft stärken.
Die Finanzierung vieler dieser Projekte stehe noch aus, heisst es. Wobei sich die geplanten Sparmassnahmen als unzureichend herausstellten: Coface geht von einer Finanzierungslücke in Höhe von 50 Milliarden Euro für die laufende Legislaturperiode aus. Dies führe zu erneuten Diskussionen um die Reform der Schuldenbremse. Von dieser ausgenommen sind momentan Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben, die über 1 Prozent des BIP liegen. Ein Spezialvermögen von 500 Milliarden Euro ist für Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz kreiert worden. Diese geplanten Ausgaben dürften die Staatsverschuldung von aktuell 62,5 auf 80 Prozent heben.
Durch die Massnahmen sei jedoch eine Steigerung des Wirtschaftswachstum von aktuell 0,4 auf über 1 Prozent zu erwarten – insbesondere im Kontext öffentlicher Investitionen, der Rekrutierung von ausländischen Fachkräften und der Unternehmenssteuersenkung. Die Fachleute betonen, dass eine zügige Umsetzung der Agenda trotz politischer Instabilität das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft merklich steigern könne. Bei einem prognostizierten Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 0,2 Prozent im Jahr 2025 liegt die Risikobewertung bei einer befriedigenden A3.
Für die Schweiz, heisst es, ist die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands als ihrem wichtigsten Handelspartner von entscheidender Bedeutung. Jede länger anhaltende Unsicherheit in Deutschland könnte sich negativ auf die Exportaussichten, die Investitionen und das Geschäftsklima in der Schweiz auswirken. Coface unterstützt Schweizer Unternehmen seit 1995 im internationalen Geschäft und unterhält Büros in Zürich und Lausanne. ce/ja