Im Kern der Steuer- und Sozialpolitik steht die Fairness
30 September 2024 10:10
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Fairness: Ein Wert, viele Perspektiven – Fairness ist ein Begriff, der in der steuer- und sozialpolitischen Diskussion immer wieder auftaucht. Doch was gilt als fair? Und wie kann Fairness in einem komplexen Gesellschafts- und Politiksystem wie der Schweiz erreicht werden? Themen wie die demografische Entwicklung, die Einkommensunterschiede oder die Vorsorgemöglichkeiten gehen uns alle persönlich etwas an. Das Nein zur BVG-Reform rückt die Dringlichkeit und Brisanz der Diskussion um die Zukunft der Sozialwerke und die Motive hinter solchen sozialpolitischen Entscheiden in den Fokus.
Mit der Initiative „Wir, die Wirtschaft“ haben wir ein Experiment des Zuhörens gewagt. In 21 Gruppendiskussionen haben 70 die Schweiz repräsentierende Bürgerinnen und Bürger einen Tag lang mit uns über drängende wirtschaftspolitische Themen diskutiert – auch über die Steuer- und Sozialpolitik.
Fairness prägt die Sicht auf die Sozialpolitik
Unsere Analyse der Gespräche, publiziert in der Studie „Sorgengesellschaft Schweiz?“, zeigt auf, was die Bevölkerung bewegt, wenn es um Entscheidungen über Steuern oder die Mechanismen des sozialen Ausgleichs geht. Während das Vertrauen in das Steuersystem solide ist, besteht Skepsis gegenüber einem verlässlichen Sozialsystem. Vor allem der Wert Fairness steht im Zentrum der Einnahmen- und Verteilungsdiskussion – und erscheint als Schlüssel für ein funktionierendes Wirtschafts- und Sozialsystem.
Der Wert der Fairness wird von den Teilnehmenden überwiegend mit Sorge diskutiert, da sie unterschiedlich wahrgenommen wird: „Fair ist nicht gleich fair“. Was als fair oder unfair empfunden wird, variiert je nach Lebenssituation und persönlichem Empfinden. Die Diskussionen zeigen, dass das Steuersystem und die Mechanismen des sozialen Ausgleichs individuell wertgeladene und emotionale Themen sind. Häufig steht die persönliche Perspektive im Vordergrund, erst später die kollektive Sicht auf Chancen oder Risiken.
Diskriminierung als grösstes Problem für den sozialen Ausgleich
Drei Themen dominieren die Wahrnehmung der Mechanismen für den sozialen Ausgleich in der Bevölkerung: Einkommensunterschiede, begrenzte Vorsorgemöglichkeiten und die demografische Entwicklung. Angesichts einer alternden Bevölkerung und steigender Staatsausgaben für andere Politikfelder wie Klimaschutz oder Verteidigung stehen schwierige Umverteilungsfragen auf der Agenda. Die Bürgerinnen und Bürger sind besorgt, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht und die Mittelschicht schrumpft. Diese Entwicklungen lösen Zukunftsängste aus und stellen das Vertrauen in die soziale Sicherheit in Frage.
Zudem verstärken diese Themen die Wahrnehmung von Diskriminierung, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit Lohnungleichheit und Zuwanderung. Betroffen seien vor allem ältere Arbeitnehmende, die „Ü50“, die Schwierigkeiten hätten, Arbeit zu finden. Die Unternehmen hätten wenig Anreize, sie zu halten, und der Staat hätte noch keine geeigneten Rahmenbedingungen geschaffen – aus Sicht der Teilnehmenden eine Lose-Lose-Situation. Aber auch junge Menschen seien betroffen: Trotz Ausbildung fänden sie öfter keinen Job und stünden im Wettbewerb mit ausländischen Fachkräften, die zu niedrigeren Löhnen arbeiten. Zudem werde die Berufsausbildung in bestimmten Branchen abgewertet: „Alle wollen studieren, keiner will mehr in Branchen mit niedrigem Lohnniveau arbeiten.“
Arbeitsmarktthemen besorgen – Fairnessempfinden ist entscheidend
Es ist kein Zufall, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt die grössten Sorgen bereitet. Hier verbringen die Menschen viel Zeit, hier geht es um die persönliche Existenz. Dabei geht es den Teilnehmenden nicht nur um die Frage, ob die Löhne fair sind, sondern auch um Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und das daraus resultierende „finanzielle Fiasko“ für Betroffene, den Fachkräftemangel und die schlechten Aussichten für ältere Arbeitnehmende. Die eigene Lebenssituation und das Gefühl, (un)fair behandelt zu werden, stehen im Mittelpunkt. Für die Teilnehmenden ist Arbeit ein Geben und Nehmen, der Arbeitsmarkt sollte fair gestaltet sein.
Die Wahrnehmung des Arbeitsmarkts und die eigene Situation sind die Grundlage für das Vertrauen in die Unternehmen und die Bereitschaft, notwendige Reformen mitzutragen. Wenn Unternehmen und Politik diese Probleme nicht ausreichend angehen, wird es schwierig, Akzeptanz für Massnahmen wie die als notwendig erachtete Erhöhung des Rentenalters zu gewinnen. Denn ohne ein Gefühl von Fairness zu erfahren, besteht die Gefahr, dass die solidarische Haltung gegenüber den Mechanismen des sozialen Ausgleichs sinkt.
Partizipation als Chance für mehr Fairness in den Sozialwerken
Der Hebel zur Sicherung des eigenen Lebensstandards liegt in der Partizipation. Die Teilnehmenden wollen bei den Sozialwerken mitreden, sich mit den Themen auseinandersetzen und durch ihre Stimmabgabe das Sozialsystem mitgestalten. Reformen der AHV werden als „dringend“ und „Kompromisslösungen“ als „notwendig“ erachtet. Um faire Entscheidungen treffen zu können, spielt die Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Rolle. Die Teilnahme am politischen Diskurs wird als „Bürgerpflicht" verstanden. Partizipation ist eine Errungenschaft, die moderne Staaten wie die Schweiz „auszeichnet“ und die Demokratie stärkt. Sie ermöglicht es ihnen, sich „aktiv für etwas einzusetzen“ oder zu „wehren“, statt sich nur zu „beschweren“.
Fairness in der Steuer- und Sozialpolitik: eine Gratwanderung
Die Daten aus den sieben Gruppendiskussionen zu Wirtschaft und Staat zeigen, dass der Wert der Fairness für die Perspektiven der Menschen auf sozial- und steuerpolitische Themen entscheidend ist. Es ist eine Gratwanderung zwischen individuellem Empfinden und Gemeinwohl. Jeder Mensch bewertet Situationen anders und was als fair oder unfair empfunden wird, variiert stark. Eine faire Steuer- und Sozialpolitik wird daher als grosse Herausforderung gesehen, da sie sozialen Ausgleich schaffen und direktdemokratisch legitimiert sein muss. Die Teilnehmenden sind sich bewusst, dass sich die Gesellschaft verändert und vielfältige Lebensformen das Zusammenleben prägen. Die Sozialwerke sollten sich den Lebensrealitäten anpassen. In der Mitbestimmung sehen sie die Chance, auf faire sozialpolitische Entscheidungen hinzuwirken und den eigenen Status quo halten zu können. Ob diese Entscheidungen dem Gesellschaftsvertrag zuträglich sind, ist eine andere Frage.
Heike Scholten ist Sozial- und Kommunikationswissenschafterin und war von 2001 bis 2010 Kampagnenverantwortliche bei Economiesuisse. Seit 2010 ist die Gründerin von Sensor Advice selbständig tätig. Die Studie „Sorgengesellschaft Schweiz? Perspektiven der Bevölkerung auf Wirtschaftspolitik und Verantwortung“ wurde hauptsächlich von der Gebert Rüf Stiftung finanziert.
Fabienne Hess, Sozial- und Kommunikationswissenschafterin, ist spezialisiert auf Strategie- und Wirkungsanalysen von Kommunikationsmassnahmen. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Einfluss des gesellschaftlichen Wertewandels auf die strategische Kommunikation von Organisationen. Seit 2022 arbeitet sie als Junior Consultant bei Sensor Advice.
Zur Studie in Kürze: „Sorgengesellschaft Schweiz? Perspektiven der Bevölkerung auf Wirtschaftspolitik und Verantwortung“
Die Wirtschaft, so hört man oft, sei für viele ein Feindbild. Unsere Ende Mai 2024 veröffentlichte Auswertung von 21 Bürgerdialogen zeigt, wie die Bevölkerung tatsächlich über die Wirtschaft denkt: Die Menschen sind nicht wirtschaftsfeindlich eingestellt, doch die wirtschaftliche Lage bereitet Sorge. Die Zustimmung zu offenen Märkten ist fragil. In der Steuer- und Sozialpolitik wird Fairness erwartet. Und: Nachhaltiges Wirtschaften gilt als Chance.
Über die Initiative: Wir, die Wirtschaft
Wir haben „Wir, die Wirtschaft.“ initiiert, weil wir der Überzeugung sind, dass die Gesellschaft über die Zukunft der Wirtschaft reden muss. Grosse globale Umwälzungen sind im Gange und fordern uns heraus. Um die Basis für unseren künftigen Wohlstand zu legen, müssen wir unser Wirtschaftsmodell zukunftsfähig machen. Das müssen Wirtschaft, Bevölkerung und Politik gemeinsam schaffen. Daran wollen wir einen Beitrag leisten. Wir arbeiten interdisziplinär, dialogorientiert und hören zu. Das gesprochene Wort ist der Rohstoff für unsere Arbeit. Wir nutzen das Potenzial von Sprache, um Veränderungsprozesse anzustossen und konstruktiv zu gestalten. Möglich machen unsere Arbeit für „Wir, die Wirtschaft.“ unsere Förderpartner - allen voran die Gebert Rüf Stiftung sowie Wirtschaftsverbände und Unternehmen.