Volatilität bietet Chancen - aber nur, wenn Sie darauf vorbereitet sind
07 Juli 2025 10:07
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Der grosse griechische Staatsmann Perikles sagte: „Nur weil du dich nicht für die Politik interessierst, heisst das nicht, dass die Politik sich nicht für dich interessiert.“ Zweieinhalbtausend Jahre später könnte dieses Sprichwort heute nicht wahrer sein. Eine Schlagzeile nach der anderen unterstreicht diesen Punkt. Beispiele aus der Financial Times: „Willkommen im neuen Zeitalter der Geoökonomie“, „Die EU braucht einen neuen geopolitischen Kompass“ und, um zu beweisen, dass nicht alles nur düster ist, „Inmitten der geopolitischen Turbulenzen ergeben sich Chancen“.
Die neue Weltordnung
Die zunehmende Aufmerksamkeit, die die Staats- und Regierungschefs der fortgeschrittensten Volkswirtschaften der Welt der Geopolitik widmen, steht in direktem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch einer Weltordnung, die jahrzehntelang ein relativ stabiles wirtschaftliches Umfeld bot. In diesem Umfeld konnten sich sowohl Politiker als auch Wirtschaftsführer auf eine Reihe von Regeln verlassen, die die Interaktionen zwischen Staat und Wirtschaft regelten.
Politisch haben wir uns von einer bipolaren Welt in den 1980er Jahren, die zwischen dem von den USA geführten Westen und dem von der Sowjetunion geführten Osten aufgeteilt war (als China noch am Rande der Welt stand), in die von den USA geführte hegemoniale Periode der 1990er Jahre bewegt. Diese von den USA dominierte Welt hat sich zu einer multipolaren Welt entwickelt, deren wichtigste Pole die USA, China, Europa, Russland und Indien sind.
Diese zersplitterte Weltordnung hat zu konkurrierenden Interessen um die Vorherrschaft sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht geführt. Politisch wird die Stabilität historischer Bündnisse auf die Probe gestellt. Während die Blöcke in der Vergangenheit dazu neigten, unabhängig von den Themen zusammenzuhalten, werden sie jetzt oft von Thema zu Thema neu konfiguriert, was zu einer grösseren Unbeständigkeit führt. Im Mittelpunkt dieser Umstrukturierung steht die kompromisslose Durchsetzung nationaler Eigeninteressen auf Kosten der Interessen von Blöcken oder Bündnissen, wodurch diese Gruppierungen sehr viel anfälliger werden.
Infolgedessen sind die wirtschaftlichen Spielregeln, die von internationalen (wenn auch westlich dominierten) Institutionen in den 1980er- und 1990er-Jahren aufgestellt wurden, grundlegend bedroht. Die Ironie besteht darin, dass ihr Untergang von einigen der Akteure vorangetrieben wird, die ihre Architekten waren. Die Prinzipien der neoliberalen Wirtschaft und des Marktfundamentalismus, die Grundlagen dessen, was als Washington Consensus bezeichnet wurde, sind so gut wie tot. Auch wenn es freie Märkte im eigentlichen Sinne vielleicht nie wirklich gegeben hat, so hat das aktuelle Umfeld doch eine aktivistische Industriepolitik im Westen hervorgebracht, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben.
“Dabei haben sie allerdings die Zahlungsbilanzgleichung von der Ebene des Nationalstaates auf die Ebene des Unternehmens verlagert.”
Risiko oder Chance?
Während geopolitische Risiken zu niedrigeren Investitionen und damit zu geringeren Innovationen und Aktienmarktrenditen führen, schafft Volatilität immer Gewinner und Verlierer, sowohl auf der Ebene der Nationalstaaten als auch der Unternehmen. Während im März Mexiko und Kanada mit Zöllen bedroht wurden und sowohl Regierungen als auch Unternehmen sich bemühten, darauf zu reagieren, verblassten diese Zolldrohungen im April im Vergleich zu denen anderer Länder. Plötzlich befanden sich Kanada und Mexiko in einer „relativ“ privilegierten Position. Was ist also wichtiger? Dass die Zölle für mich abgeschafft werden oder dass sie geringer sind als die Zölle für meinen konkurrierenden Nachbarn? Geht man davon aus, dass die Nachfrage bis zu einem gewissen Grad unelastisch ist, wird die Relativität zum entscheidenden Kriterium.
Ebenso bietet Volatilität, wenn sie richtig eingesetzt wird, den Unternehmen die Möglichkeit, davon zu profitieren. In den 2010er-Jahren führte Argentinien, ein Land, das als Musterbeispiel für Turbulenzen gilt, eine Politik ein, die von den Unternehmen verlangte, die für ihre Importe benötigten Devisen durch Exporte im gleichen Wert auszugleichen. Ziel war es, die schwindenden Währungsreserven des Landes nicht zu belasten. Auf diese Weise verlagerte sich die Zahlungsbilanzgleichung von der Ebene des Nationalstaates auf die Ebene des Unternehmens. Da Importeure selten auch Exporteure sind, entwickelte sich ein Sekundärmarkt für „Exportwechsel“.
Diese Wechsel ermöglichten den Importeuren den Zugang zu den Hartwährungsreserven, die sie zur Finanzierung ihrer Importe benötigten. Da es jedoch nichts umsonst gibt, pendelte sich der übliche Kurs auf etwa 5 Prozent des Nennwerts des Wechsels ein. Während sich die Importeure von Automobilen und Technologie diesen Betrag leisten konnten, da sie ihn an einen gebundenen Markt weitergeben konnten, waren die Auswirkungen auf die verkaufenden Unternehmen, also die Exporteure, wesentlich gravierender. Die grössten argentinischen Exporteure handelten auf den globalen Rohstoffmärkten, wo sich die Gewinnspannen um die 1 bis 2 Prozent bewegten. Über Nacht konnten diese Unternehmen Gewinne von 6 bis 7 Prozent einfahren, und über die vier Jahre der Politik häuften sie zwischen 14 und 24 Jahre lang Gewinne an.
Alles beginnt mit einer Denkweise
Nicht alle Unternehmen nutzten diese von der argentinischen Regierung gebotene Gelegenheit. Einige hielten sich bedeckt, weil sie dachten, dass etwas „faul“ oder illegal sei, während in Wirklichkeit alles in Ordnung war. Solange die Regierung ihre Hartwährungsreserven nicht aufzehren musste, war sie zufrieden.
Was unterscheidet also diejenigen, die diese Unvollkommenheit des Marktes ausnutzen, von denen, die es nicht tun? Alles beginnt mit der Denkweise. Wenn man mit volatilen Märkten zu tun hat, sollte man sie nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen, sich von den anderen abzuheben. Aktienhändler sehen in der Volatilität eine Möglichkeit, ihre Gewinne zu steigern, denn stabile Märkte bedeuten weniger Arbitragepotenzial. Wie Thomas Jefferson sagte: „Demjenigen, der die falsche Geisteshaltung hat, kann nichts helfen.“ Die Geisteshaltung kann sowohl bei der Auswahl von Menschen als auch bei deren Entwicklung beeinflusst werden. Menschen lernen von den Strategien und Verhaltensweisen derer, denen sie unterstellt sind. Die Einstellung der Unternehmensleitung zur Volatilität wird also das Verhalten des restlichen Unternehmens beeinflussen.
Die Einstellung allein reicht jedoch nicht aus. Die Unternehmen müssen über die erforderlichen Fähigkeiten und die Organisationsstruktur verfügen, die es den Mitarbeitenden in den unteren Ebenen ermöglichen, zeitabhängige kritische Entscheidungen zu treffen. Sehr zentralisierte hierarchische Strukturen neigen zu langsamen Reaktionszeiten, und in unbeständigen Umgebungen ist Schnelligkeit von entscheidender Bedeutung.
Wie kann man also mehr delegieren und gleichzeitig die Kontrolle behalten? Der Schlüssel liegt im Management durch Werte. Unternehmen mit einer starken wertebasierten Kultur können präventive Verhaltenskontrollen, einschliesslich Schulungsprogrammen und Rollenmodellen, anstelle von eher traditionellen und rückwärtsgerichteten outputbasierten Kontrollen wie Leistungsberichten einsetzen, um die Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene zu beeinflussen. Dies setzt allerdings ein grösseres Vertrauen der obersten Führungsebene in die Mitarbeitenden an der Front voraus. Um dieses Vertrauen zu entwickeln und ein grundlegendes Verständnis für das Umfeld zu entwickeln, mit dem sie konfrontiert sind, ist es wichtig, dass die Führungskräfte ihre Zentralen verlassen und sich in die Praxis begeben. Trotz der Fülle an Informationen im Internet, über ChatGPT oder Zoom kann nichts das persönliche Gespräch ersetzen, wenn es darum geht, ein Verständnis für die lokale Situation zu entwickeln und Vertrauen aufzubauen.
„Heutzutage ist ein chinesischer oder russischer Unternehmenspass viel vorteilhafter.“
Nicht jeder ist gleich betroffen
Bei geopolitischen Störungen gibt es Gewinner und Verlierer: Nicht alle Unternehmen sind gleichermassen betroffen. Manchmal liegt dies an Faktoren, auf die das Unternehmen keinen Einfluss hat, wie zum Beispiel die Nationalität oder die Branche, in anderen Fällen jedoch an Faktoren, die das Unternehmen beeinflussen kann.
Faktoren, die sich auf die Risikoexposition auswirken:
- Nationalität
- Eigentümerstruktur
- Geografischer Fussabdruck
- Finanzierungsmodell
- Lokales Engagement/Lobbying
Wie die jüngste Runde von Zolldrohungen durch die USA gezeigt hat, machen Nationalität und Branche einen Unterschied: Woher man kommt und die relative Position und Macht der heimischen Regierung können sich positiv oder negativ auswirken. Venezuela ist ein typisches Beispiel dafür. Vor Chavez/Maduro genossen amerikanische und europäische Unternehmen aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den Regionen eine privilegierte Stellung. Heute ist ein chinesischer oder russischer Unternehmenspass viel vorteilhafter.
Ob Ihre Eigentümerstruktur lokale private oder staatliche Interessen einschliesst, kann sich ebenfalls auf Ihre lokale Positionierung auswirken. Ebenso kann Ihre Branche das Ziel geopolitischer Aktionen sein oder auch nicht, je nach Variablen wie strategische Bedeutung, lokale Substitute und Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Während Unternehmen auf einige dieser Variablen wenig Einfluss haben, lassen sich andere deutlich leichter steuern. Der geografische Fussabdruck etwa und die Organisation der eigenen Abläufe können einen erheblichen Einfluss auf das Risikoprofil haben. Was wird produziert – und wo? Wo entsteht der eigentliche Mehrwert? Ist dieser auf ein Land konzentriert oder auf mehrere verteilt? Das hat nicht nur Auswirkungen auf Zölle. In Ländern mit unsicheren Eigentumsrechten – abhängig von den Antworten auf diese Fragen – besteht möglicherweise ein Risiko der Verstaatlichung oder Enteignung, da einfache Montagewerke in solchen Szenarien weit weniger wertvoll sind als voll integrierte Produktionsstätten. Ebenso sind solche Konstruktionen für Regierungen weniger attraktiv, wenn lokale Gesellschaften hoch verschuldet sind, im Gegensatz zu solchen, die mit Kapital des Mutterunternehmens finanziert wurden. Staaten schrecken deutlich eher davor zurück, internationale Kapitalmärkte zu verprellen als ein einzelnes Unternehmen. Schliesslich kann auch die Fähigkeit eines Unternehmens, auf lokale Entscheidungsträger und wichtige Interessengruppen Einfluss zu nehmen, darüber entscheiden, wie es von staatlicher Seite behandelt wird. Bei beiden Strategien geht es dabei weniger um die genaue Vorhersage der Zukunft, als vielmehr darum, zu verstehen, welche Schritte man unter verschiedenen denkbaren Entwicklungen ergreifen würde.
Also, was ist zu tun?
- Der erste Schritt besteht darin, das eigene Risikotoleranzniveau zu verstehen. Als Unternehmen: Welches Mass an Risiko sind Sie bereit, einzugehen? Das kann beeinflussen, welche Entscheidungen Sie treffen, wo Sie investieren und wie Sie sich auf dem globalen Parkett positionieren.
- Zweitens gilt es, die eigene Gefährdungslage zu analysieren. Früher, als Geopolitik kaum eine Rolle spielte, haben Unternehmen jeden Cent aus ihren Wertschöpfungsketten herausgeholt und einzelne Produktionsschritte an die jeweils günstigsten Standorte ausgelagert. Heute müssen wir verstehen, welche Risiken eine so verstreute Kette oder eine Überabhängigkeit von bestimmten Märkten für uns mit sich bringt.
- Drittens: Verstehen Sie, wie sich diese Risiken mindern lassen. Was können wir tun, um unsere Risikoposition zu verringern – etwa durch den gezielten Einsatz zuvor genannter Elemente wie Finanzierungsstrategien oder den geografischen Fussabdruck?
Es steht eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung, um diese Risiken sowohl zu analysieren als auch zu mindern. Dazu gehört etwa die Szenarioplanung, mit der ein Unternehmen die Auswirkungen externer Unsicherheiten auf mögliche zukünftige Entwicklungen abschätzen und daraus Rückschlüsse für heutige Entscheidungen ziehen kann. In der heutigen Welt könnten für ein in Europa ansässiges Unternehmen beispielsweise zwei entscheidende Unsicherheiten die US-Zolltarife und der Wechselkurs zwischen US-Dollar und Euro sein. Kombiniert man diese beiden Variablen, ergibt sich als schlimmstes Szenario ein Anstieg der US-Zölle auf europäische Exporte auf 50 Prozent bei gleichzeitiger Abwertung des US-Dollars. Gleichzeitig lassen sich drei weitere Szenarien aus der Kombination dieser beiden Faktoren ableiten. Entscheidend ist, dass das Unternehmen versteht, was jedes dieser vier Szenarien konkret bedeuten würde – und welche Massnahmen es jeweils ergreifen müsste, um darauf vorbereitet zu sein. Auch viele andere Unsicherheiten, wie Rohstoffpreise, Inflation und Ähnliches, lassen sich auf diese Weise bewerten.
Horizon Scanning ist ein ähnliches Instrument, das Unternehmen ermöglicht, durch eine systematische Analyse des Umfelds Trends zu identifizieren, die potenziell grundlegende Auswirkungen haben können. Wenn man beobachtet, dass das Auftreten eines Phänomens in einer Art „Hockeyschläger-Kurve“ zunimmt, spricht vieles dafür, dass es sich um einen echten Trend handelt. Oft beginnen solche Entwicklungen langsam und beschleunigen sich dann ab einem bestimmten Punkt exponentiell. Das konnten wir sowohl bei COVID-19 als auch bei der Verbreitung von Künstlicher Intelligenz beobachten. Im Idealfall erkennt man einen Trend noch vor seiner Beschleunigungsphase – so kann man sich nicht nur besser darauf vorbereiten, sondern in manchen Fällen sogar aktiv seine Entwicklung mitgestalten.
Bei beiden Methoden geht es weniger darum, die Zukunft exakt vorherzusagen, sondern vielmehr darum zu verstehen, welche Schritte man unter verschiedenen möglichen Zukunftsszenarien unternehmen würde. Es gibt keine Entschuldigung dafür, unvorbereitet zu sein. Wie Condoleezza Rice und Amy Zegart in ihrem Buch „Political Risk“ (2018) schreiben: „Niemand kann genau vorhersagen, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Aber das Management politischer Risiken muss kein reines Rätselraten sein. Man muss nicht genau wissen, woher das Risiko kommt, um darauf vorbereitet zu sein.“
Omar Toulan ist Professor für Strategie und internationales Management, MBA-Dekan und Inhaber des Hilti-Lehrstuhls am IMD in Lausanne. Zu seinen Fachgebieten gehören strategisches Management, internationales Geschäft, Wachstumsstrategien und das Management multinationaler Unternehmen. Seine Forschung – darunter Offshoring und Outsourcing, globales Account Management, multinationale Unternehmen aus Schwellenländern sowie die Auswirkungen der digitalen Disruption im Einzelhandel – wurde in verschiedenen wissenschaftlichen und praxisorientierten Fachzeitschriften veröffentlicht, darunter das Strategic Management Journal, das Journal of International Business Studies, die California Management Review, Industrial and Corporate Change, Emerging Markets Review und das Journal of Latin American Studies.
Dieser Text ist zuerst über IMD-Kanäle erschienen.