Meinungsbildung braucht Mut und Musse
Musse heisst nach Duden freie Zeit und (innere) Ruhe, in der man seinen eigenen Interessen nachgehen kann. Mut ist die (grundsätzliche) Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man für richtig hält. Und Meinungsbildung ist die Bildung einer Meinung (zu einer bestimmten Frage) im Einzelindividuum und in der Gesellschaft.
Was braucht es zur Meinungsbildung? Genau. Bunte, freie und idealerweise glaubwürdige Meinungen von anderen Menschen, damit wir diese besprechen, mit unseren eigenen Lebensbildern vergleichen und in Kontext setzen können. Vielleicht sind diese zu hinterfragen und anzupassen. Wir lernen im Leben bis zum Tod. Nachher vielleicht auch noch, aber das ist jetzt einfach eine Meinung, die wir diskutieren können.
Vielfalt ist anstrengend. Bunte Meinungen sind schwieriger zu verstehen und zu ertragen, und vor allem auch schwieriger zu kontrollieren. Demokratien sind entsprechend mühsam und aufwändig. Diktaturen sind vereinfachend und damit verlockend: Millionen Menschen können dem Willen von ein paar Wenigen folgen und gehorchen, dann haben sie ein gutes Leben.
Meinungen zu äussern braucht Mut. Gerade in einem Umfeld, wo Menschen zunehmend geneigt sind, andere Menschen aufgrund ihrer Meinungen möglichst schnell in eine Schublade zu stopfen. Am besten in eine schön schwarz-weisse Schublade. So wie es die in den letzten 20 Jahren perfid gut gewordenen, werbegeld-maximierenden Algorithmen der Social Media-Firmen vormachen, und uns Menschen in massgeschneiderten Informations-Bubbles schwelgen lassen.
Meinungsbildung braucht Zeit. Dummerweise immer mehr Zeit, in zunehmend dicht getakteten Arbeitstagen. Weil in der digitalen Welt - wo Lesende zu Schreibenden werden und umgekehrt - auch geschulte Fachleute nur noch mit viel Aufwand und Mühe beurteilen können, ob eine Information glaubwürdig ist oder fake. Das trifft gleichermassen auf Texte zu, Bilder, Videos oder Tonspuren. In einer leider extremen Form erleben wir dies gerade täglich mit dem Krieg in der Ukraine.
Sogar eindeutig falsche Nachrichten werden zum ernsthaften viralen Hit. Für den Piloten, der sein Flugzeug trotz abgebrochenem Flügel sicher landen konnte, forderten erstaunlich viele Lesende Helden-Auszeichnungen. Endlich eine positive Meldung in einer tragischen Welt! Was rein physisch 100% unmöglich ist, entpuppte sich als geschickte Werbekampagne einer Versicherungsfirma. Die Beurteilungskompetenz von Informationen scheint zu degenerieren. Was von anderen geliked wird, wird hurtig und unbedacht mit-geliked.
Alles andere als fake sind die ungefiltert veröffentlichten, kostenlos millionenfach verbreiteten Hass-Botschaften. Extremismus, Spaltung und Ausgrenzung bringt gute Klick- und Verweilraten, und damit gutes Werbegeld. Was die Gewinne der Social Media Anbieter sprudeln lässt, lässt in gleichem Mass den gesunden gesellschaftlichen Diskurs verrotten. Deshalb können die Beteuerungen der Plattform-Anbieter zur Verbesserung dieser Situation als fake oder zumindest äusserst unwahrscheinlich abgehakt werden. Die Medien- und Kommunikationsbranche ist gefordert, hier neue Lösungen zu entwickeln - als echte Alternative zu dieser Sorte von Plattformen.
Meinungsbildung braucht Mut zur Medieninnovation. Mit dem Aufstieg der Digitalisierung haben sich die grossen Medienhäuser erfolgreich auf die digitalen Plattformmodelle eingespielt. Aus reinen Rendite-Überlegungen heraus haben sie die sorgfältige Recherche und Produktion von journalistischen Nachrichten zu grossen Teilen aufgegeben. Der mittlerweile als dramatisch zu bezeichnende Abbau bei Medien-Qualität und Medien-Vielfalt ist die direkte Folge und Zeuge dieser Strategie. Diese Entscheide sind unternehmerisch absolut legitim. Für den gesellschaftlichen Diskurs, die freie Meinungsbildung und den Zusammenhalt der Schweiz zeigen sie jedoch zunehmend fatale Wirkungen.
Erfreulicherweise zeichnen sich jetzt erste ermutigende Entwicklungen ab: Nach 20 Jahren einseitigem Medien-Abbau scheint die Schmerzgrenze erreicht. Vereinzelte junge Medienprojekte sind schweizweit am Spriessen, bottom up und regional verankert. Das System beginnt zu reagieren, die Gegenbewegung setzt ein.
Ziel sollte sein, zumindest einen Teil der jährlich 2 Milliarden (!) Franken an Werbegeldern wieder in die Schweiz zu holen, die heute zu einer knappen Handvoll Firmen im Silicon Valley und in China fliessen. Notabene wird dieses Geld ausgegeben, um in der Schweiz von A nach B zu kommunizieren. Also etwa von Düdingen nach Flamatt, von Marin nach Renens, von Losone nach Landquart, oder von Butthisholz nach Bischofszell. Als Wirtschaft und Gesellschaft können wir uns eine solch verzerrte Welt schlicht nicht leisten.
Die Innovationskraft der Schweiz ist gefordert. Für einmal nicht bei Fragen zum Tourismus, Forschung, Export oder dem Fachkräftemangel. Sondern schlicht und einfach in Bezug auf die Neugestaltung der zukunftsorientierten Medienlandschaft. Mit der Entwicklung von privatwirtschaftlichen, nachhaltig finanzierten Geschäftsmodellen. Zum Nutzen eines langfristig stabilen, belastbaren und gesunden Wirtschafts- und Lebensstandorts Schweiz.
Wir bleiben dran.
Christian Häuselmann ist ein passionierter Ökonom, Innovator und Serial Entrepreneur. Vision ist das langfristig nachhaltige Handeln von Menschen und Firmen. Er ist u.a. Mitgründer des FLYER Elektrobike (1993), swisscleantech (2007) und SHIFT Switzerland (2010). 2018 hat er die Zukunftsinitiative Schweiz2291 – 1000 Jahre Schweiz lanciert. #trylongterm.