Interessenspolitik … eher als Neutralitätspolitik
Nach dem Nationalrat hat in der vergangenen Woche auch der Ständerat beschlossen, das Militärbudget schrittweise auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Damit könnte das Budget von heute jährlich 5,6 bis 2030 auf rund 7 Milliarden Franken steigen. Bereits wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wurde dieser Vorstoss lanciert. Wozu genau diese Mittel dienen sollen, bleibt auch nach der Ratsdebatte nicht klar, ebenso wie das, was eigentlich zuerst klar sein müsste: Wie schätzt die Regierung die aktuelle Bedrohungslage - allenfalls neu - ein und wie will sie die Sicherheit der Bevölkerung entsprechend - allenfalls anders als bisher - schützen. Die Antwort darf sich nicht alleine auf die militärische Verteidigung beziehen, sind es doch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ungleichheiten und Benachteiligungen, die das friedliche Zusammenleben gefährden und zu Konflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen führen können. Es muss die Schweiz kümmern, dass unrechtmässige Gelder den Weg in die Schweiz finden und dass Oligarchen und andere Barone ihre speziell für ärmere Länder wirtschaftlich nachteiligen und menschenrechtsverachtenden Rohstoffhandelsgeschäfte geschützt tätigen können. Eine nicht nur militärisch ausgerichtete Sicherheitspolitik nützt sowohl der Schweizer Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinschaft, so wie dies die Diplomatie mit den guten Diensten und das IKRK und Organisationen mit der humanitären Hilfe und dem Schutz der Menschenrechte tun. Es ist dringend, dass das Parlament seinen engen und einseitigen Blick auf das Militärbudget abwendet. Oder sollen die höheren Militärausgaben mit Einsparungen dereinst bei den guten Diensten und der internationalen Hilfe für sozial und wirtschaftlich Benachteiligten kompensiert werden müssen?
Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der Verantwortung der Schweiz steht die Neutralität und wie sie die Schweiz politisch gestaltet in der Kritik. So mahnte gar der Präsident der Mitte-Partei, die Neutralitätspolitik der Schweiz sei zu überdenken. Es ist - mit seinen Worten - unanständig, wenn die Schweiz Waffen nach Saudi-Arabien liefert (im Jahre 2020 für über CHF 10 Millionen) und gleichzeitig der Ukraine keine Munition schicken wolle oder dürfe. Der Bundespräsident hat anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos den neuen Begriff der kooperativen Neutralität ins Spiel gebracht. Die Verletzung des Völkerrechts sei im Falle der Ukraine derart massiv, dass auch die Kooperation grösser geworden sei, so seine Begründung.
Wir müssen fragen, wie angepasst auf den Angriffskrieg Russlands (oder anderer Kriegstreiber) zu reagieren ist, wie die Menschen hier wie dort in Sicherheit leben, und, welche Verantwortung und welche Möglichkeiten die Schweiz dabei hat:
- Friede muss fortwährend gestiftet werden, dies ist eine politische Aufgabe, wie der Philosoph Kant bereits vor Jahrhunderten feststellte. Bedeutet dies, dass gewaltsame, kriegerische Auseinandersetzungen den Normalzustand bedeuten? Bleiben gewaltfreie Bemühungen, eine friedliche Welt (heute: in Europa) zu gestalten ohne Aussichten, solange Krieg und Gewalt normal sind? Ist gewaltfreier Widerstand gar naiv, gefährlich, defätistisch angesichts des Normalen?
- Was bedeutet Verteidigungsbereitschaft militärisch? Ausschliesslich defensiv, wie wir dies für die Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten zu verstehen geglaubt haben? Was bedeuten offensiv-präventiv einsetzbare Waffen wie der mögliche neue Flieger F-35? Welchen Platz haben gewaltfreie Mittel, gewaltloser ziviler Widerstand, Diplomatie und internationale Zusammenarbeit? Und: Ist in jedem Fall Verteidigung bis zur vollständigen Zerstörung von Leben und (auch materiellen) Lebensgrundlagen geboten?
- Will die Schweiz wie in früheren Kriegen ihre Sicherheit damit verbinden, dass Personen und Staaten von der Schweiz aus wirtschaftlich tätig sein können auch wenn sie das Völkerrecht, internationale Vereinbarungen und nationale Gesetze missachten? Will die Schweiz ein Hort für auch zweifelhafte Geschäfte bleiben und davon fiskalisch und politisch profitieren? Warum wird dies ethisch und moralisch immer wieder als vertretbar betrachtet?
- Die Schweiz ist Teil der westlichen Wertegemeinschaft und ist damit de facto Partei auf der internationalen Bühne. Müsste sich die Schweiz nicht in Bündnissystemen der westlichen Welt einbringen und Verantwortung für die Sicherheit der Menschen in dieser Region mittragen? Wird damit eine derartige Mitverantwortung nicht zur Pflicht unseres Landes?
Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine:
- Welche Verantwortung trägt die Schweiz in der Unterstützung und Befähigung der Ukraine zur Durchsetzung der Selbstverteidigung und Sicherung der Unabhängigkeit gegen den völkerrechtswidrig angreifenden russischen Aggressor?
- Ist die Weigerung respektive die mit der Neutralität rechtlich nicht vereinbare Lieferung von Kriegsmaterial an die Ukraine nicht indirekt eine Unterstützung Russlands? Zeigt uns der Angriffskrieg Russlands nicht die Grenzen des Neutralitätsrechts auf, wenn damit indirekt der völkerrechtswidrig handelnde Aggressor ein leichteres Spiel hat?
- Steht die Schweiz, als neutralitätspolitisch umstrittener Rohstoffhandelsplatz Russlands eventuell indirekt auf Seiten Russlands?
- Als UNO-Mitglied hat sich die Schweiz verpflichtet, die Beschlüsse der UNO – die Beschlüsse des Sicherheitsrats sind verbindlich – zu achten. Dies gilt ebenso für internationale Konventionen wie zum Beispiel die Menschenrechtskonventionen, welche die Schweiz ratifiziert hat. Damit kann und darf sie das völkerrechtswidrige Handeln Russlands nicht unterstützen. Wie weit darf sie dabei eigene Interessen wie beispielsweise den Verlust von Handelsmöglichkeiten, von Steuerausfällen oder Arbeitsplatzverluste abwägen?
Die Schweiz ist global und umfassend betrachtet nicht neutral. Sie ist Teil der westlichen, europäischen Werte- und Staatengemeinschaft, mit einer gemeinsamen kulturellen, politischen, sozialen Vergangenheit. Sie hat in dieser Gemeinschaft seit Jahrhunderten einen ihr eigenen Platz eingenommen, von den Mächten zugeordnet, aber auch selber erkämpft, erarbeitet und erreicht.
Wenn die Schweiz als neutral gelten kann, dann ausschliesslich im Zusammenhang mit der völkerrechtlich verankerten Verpflichtung, sich nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten zu beteiligen.
Im Zusammenhang mit der rechtlich verankerten Neutralität muss sich die Schweiz fragen, ob sie (und andere vergleichbar neutrale Länder), angesichts der indirekten Begünstigung des militärisch Stärkeren, überhaupt neutral im auch rechtlichen Sinne sein kann. Dem Schwächeren nicht zur Seite zu stehen stärkt indirekt den Stärkeren, dies zeigt der Ukrainekrieg deutlich.
Die Schweiz «laviert» mit ihrer Neutralitätspolitik zwischen dem Hochhalten von Werten wie den Menschenrechten, der sozialen Gerechtigkeit und dem Erhalt einer lebenswerten Umwelt einerseits und den wirtschaftlichen Eigeninteressen, verknüpft mit der Unabhängigkeit des Landes, andererseits. Oftmals stehen Arbeitsplätze, Gewinnversprechen und Steuereinnahmen vor dem prononcierten Einstehen für die Menschenrechte oder die Lebensfähigkeit ärmerer und sozial benachteiligter Menschen.
Die Schweiz soll
- die Neutralität und die Bezeichnung Neutralitätspolitik nicht länger als Deckmantel zur Wahrung ihrer - primär wirtschaftlichen - Eigeninteressen nutzen. Sie soll entsprechend von (wirtschaftlicher) Interessenspolitik und nur noch dann von Neutralität sprechen, wenn der völkerrechtlich verankerte Begriff gemeint ist;
- sich angesichts ihrer Zugehörigkeit zur westlichen, primär europäischen Werte- und Staatengemeinschaft ausdrücklich dazu bekennen und sich für diese einsetzen;
- sich kompromisslos für die in internationalen Abkommen verankerten Prinzipien einer friedlichen, sozial- und menschengerechten sowie ökologisch ausgerichteten Welt einsetzen und selber leben;
- weiterhin, auch als Mitglied einer Staatengemeinschaft, gute Dienste anbieten, wie das beispielsweise auch Norwegen, notabene ein NATO-Mitglied, erfolgreich tut;
- zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit, Sicherheit, und Verteidigungsfähigkeit mit ihren Partnerstaaten – Westeuropas – Bündnisse und damit auch Beistandsverpflichtungen eingehen;
- ihre Sicherheitspolitik nicht einseitig auf die militärische Verteidigung des Landes, sondern auf die Beseitigung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ungleichheiten und Benachteiligungen im Land selber wie global ausrichten.
Manuel Flury-Wahlen ist ausgebildeter Geograph, pensionierter Mitarbeiter der DEZA und Grossvater. Er bleibt an allen Zukunftsfragen interessiert und ist Berater in Fragen der Internationalen Zusammenarbeit und einer sozial und ökologisch verantwortlicheren Schweiz. Dieser Beitrag ist in leicht ergänzter Form auch auf seinem privaten Blog publiziert.